120 Jahre Werder-Vereinsgeschichte – Harald Klingebiel kennt diese zwölf Jahrzehnte so gut wie sonst keiner. Seit 1987 arbeitet er die grün-weiße Historie akribisch auf.
Bremen – Irgendwann blieb der Hausmeister einfach stehen. Sie mussten ihr Ziel erreicht haben. Das Problem war nur: So hatte es sich Harald Klingebiel ganz und gar nicht vorgestellt.
Pappkartons, viele Pappkartons, unbeschriftet, unsortiert, unter einer Treppe irgendwo im Weserstadion platzsparend aufgestapelt. Im Januar 1987 hatte Klingebiel den Auftrag angenommen, die Vereinsgeschichte des SV Werder Bremen aufzuarbeiten, ein Archiv anzulegen, Vergangenes vor dem Vergessen zu bewahren, und da stand er nun, vor diesem Riesenberg aus Pappkartons. Mehr oder weniger achtlos hatte der Verein darin alte Fotos, alte Dokumente und Ähnliches aufbewahrt.
In den folgenden Jahren brachten Klingebiel und Mitstreiter nach und nach Ordnung in den Wust. Wenn der SV Werder am Montag nun also seinen 120. Geburtstag feiert, dürfte es niemanden geben, der sich in diesen zwölf Jahrzehnten besser auskennt als Harald Klingebiel. Eine Zeitreise.
Treffpunkt „Wuseum“, wo auch sonst? Einen passenderen Ort als das Vereinsmuseum gibt es schließlich nicht, um sich mit der Werder-Historie vertraut zu machen. Harald Klingebiel, 68, aufgewachsen in Bremen-Horn, heute wohnhaft in Bremen-Hastedt, legt nur kurz Jacke und Rucksack ab, dann geht sie los, die grün-weiße Geschichtsstunde. „Wo wollen Sie anfangen?“, fragt der Experte, lacht kurz – und schon sind wir mittendrin, 1950er-Jahre, Werder in der Oberliga Nord: die Sache mit Gernhardts Glasauge, eine von Klingebiels ausgemachten Lieblingsanekdoten.
„Horst Gernhardt war ein super Mittelstürmer, obwohl er im Krieg ein Auge verloren hatte“, sagt der Experte. Seitdem trug der Fußballer eine Prothese aus Glas. Bei der Endrunde um die Deutsche Meisterschaft passierte es dann: Während eines feuchtfröhlichen Abends, Gernhardt hatte sich schon ins Bett gelegt, kam ein beschwipster Mitspieler ins Hotelzimmer des Angreifers, wollte mit dem Kollegen anstoßen – und trank das Wasserglas aus, in dem Gernhardts Glasauge schwamm.
„Max Konopka hat mir diese Geschichte erzählt“, sagt Klingebiel, der auch heute noch herzlich über sie lachen kann. Etliche Ex-Spieler, Funktionäre und Zeitzeugen hat der Archivar während seiner Spurensuche befragt, ein großes Puzzle war das, jedes Teil für sich genommen ein Schatz, viele aber erst im Kontext der anderen zu verstehen. „Es wuchs und wuchs und wuchs“, sagt Klingebiel.
Im „Wuseum“ könnte der Werder-Historiker zu jedem Exponat ein ganzes Seminar halten, hier ist er zu Hause, wie ein Großvater die Bilder seiner Enkelkinder zeigt er alte Eintrittskarten, Fotos, Trikots, Verträge. Ein Dokument, vielleicht das Wichtigste von allen, ist aber verschollen, womöglich gab es sie auch nie: die Gründungsurkunde des Vereins.
Bombenangriff auf Bremen zerstört Werder-Geschäftsstelle
Einige Oberschüler haben Werder am 4. Februar 1899 im Lokal „Kuhhirten“ gegründet, das ist überliefert, „handschriftlich oder gedruckt gibt es von der Versammlung heute aber kein Dokument“, sagt Klingebiel. Historiker-Pech. Noch viel schlimmer: die Katastrophe aus dem August 1944, als bei einem Bombenangriff auf Bremen auch die Werder-Geschäftsstelle an der Bahnhofstraße zerstört wird. „Diese Lücken schließt man nicht mehr“, sagt Klingebiel, der sich intensiv mit Werder während der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt hat. Ein zentraler Name: Alfred Ries.
2008 legte der Archivar die erste Studie über den jüdischen Vereinspräsidenten vor, unter dem der SVW 1965 zum ersten Mal Deutscher Meister wurde. Ries war während des Zweiten Weltkrieges von den Nazis verfolgt worden, emigriert, später dann zurückgekehrt. „Eine faszinierende Persönlichkeit“, betont Klingebiel – und schlägt kurz den Bogen in die Jetzt-Zeit: „Er hat sich mal mit dem 1. FC Nürnberg angelegt.“
Direkt nach der Gründung der Bundesliga kritisierte Ries als Werder-Präsident eine Regelung des DFB, die es den Vereinen erlaubte, verdiente Nationalspieler besser zu bezahlen als andere Profis. „Ries hat das als Ungleichbehandlung empfunden, denn Nürnberg hatte viele solcher Spieler, Werder keinen einzigen.“ Eine kleine Episode nur, eine von unzähligen, die der Fußball-Historiker während des Rundgangs durchs „Wuseum“ fallen lässt. Als wäre er selbst dabei gewesen, und irgendwie war er es ja auch. Nur eben viele Jahre später, theoretisch, durch das Eintauchen in die vergangene Zeit.
Und hin und wieder, nicht oft, aber doch an einigen Stellen, gibt es sie, diese Momente, wo sich bei Klingebiel historische Arbeit und persönliche Erinnerung vermischen. Beim Meistertitel 1965 zum Beispiel, da stand er als 13-Jähriger in der Ostkurve, sprang nach dem Schlusspfiff aufs Fahrrad und düste los: „Ich wollte rechtzeitig zur Sportschau bei einem Freund sein“, sagt Klingebiel, „solche Erlebnisse vergisst man nie wieder.“